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Lecture spoken by Henk Oosterling at Biggest Visual Powershow, Zollverein Essen, Germany, 23 June 2006


Damen und Herrn, Next Nature, Nächste Natur ist ein Pleonasmus, ein überflüssiger Ausdruck. Heutzutage ist Natur immer Nächst. Es gibt auch kein Gegensatz zwischen Nature und Nurture, zwischen Natur und Nahrung. Ist Natur nur Nahrung, dann gibt es kein Natur. Natur wird dann völlig konsumiert in die survival of the fittest. Sobald aber Jagen und Essen sich verwandeln in Züchten und Nouvelle Cuisine, dann wird gleichzeitig mit Kultur Natur produziert. Natur als radikalisierte Kultur is Reinkultur. Nach der Reiz des neuesten Kicks kommt das Reine. Dann gibt es nur Kaffee ohne Kafeine, Bier ohne Alkohol, Viagrasex ohne Libido und sogar Kriege ohne Opfer und bodybags. Slow food ist ein Produkt heutiger Geschwindigkeit, Real time ein digitales Konstrukt.


Natur entsteht wenn wir uns entscheiden. Jeder Wahl braucht aber Media und Mediators um eine Distanz hervor zu bringen. Natur ist das Ergebnis einer Wahl, das Resultat vermittelter Distanz, das Produkt der Reflexion. Wir nennen dieses Wählen Autonomie und unsere Natur, unser Wesen, das nennen wir heute: Automobilität. Reibungsfrei, bitte. Nicht zu dreckig.


Damals fegte die Tsunami den Menschen hinweg - so wie ein Krümel den mann nachlässig von seiner Hose abwischt. Es war aber nicht die Natur die Südost-Asien heimsuchte. Die Überwelle unterteilte die Menschheit in Beute, Beter und Beobachter. Die Beute wird als willenlose Leidensgenossen zur Objekt für Media und Leichenbeschauer. Beter machten sie zur religiösen Opfer und Beobachter verwandelten sie mittels ihrer Video-Distanzierung in natürlichen Opfer. So produzieren Götter und Medien die Natur.


Haben wir den Mut zu anerkennen daß, wie einmal die Götter, die Medien unsere ersten Natur worden sind? Das unser Dasein letztendlich nur design ist? Obwohl wir meinen unsere materiellen Hilfsteile stünden uns dienlich zur Verfügung, beschlicht uns manchmal das Gefühl sie verfügen eigentlich über uns. Dennoch akzeptieren wir diese Eigenständigkeit unserer Medien nur in Metapherreicher Verhüllung.


Also: Dasein ist design. Unsere Signatur, das sind die Medien. Wir können nicht verzichten auf Bezeichnung. Eben in Resignation, in asketischen Wiederverwendung entwerfen wir Natur. Meditation ist auch Mediation. So bieten alle Medien den Grossteil ihrer Gebraucher eine Überdosis neuer Reize und vor allem viel Bequemklichkeit. Schneller, sicherer und komfortabler als je zuvor steht uns unsere Welt in Griffnähe zur Verfügung. Eine handy Welt. Völlig under my thumb. Medien werden uns über pseudorituelle Handlungsmuster systematisch 'ins Fleisch' eingeprägt. Und je mehr die Medien uns in sich hineinziehen, desto mittelmässiger werden wir. Obwohl der Durchschnittskonsument weniger selbstbewusst nach dem Maß der Mittel verfährt als der Datadandy, kann ihre passivere Hingabe zu diesem Mittelmäßigkeit gleichradikal sein. Wir alle sind, ob wir daß nun anerkennen oder nicht, radikal mittelmässige Wesen. Also: Wenn Dasein design ist, dann ist radikale Mediokrität next nature.


Wie Friedrich Nietzsche jemals schrieb: am Ende wird jede zweite Natur die Erste. Wenn der Mensch sein Medium vergißt - d.h. sobald jeder die Welt nur durch seine eigene Brille betrachtet ohne diese zu sehen - wird aus dieser Vergessenheit die Natur geboren. Dann wird der Mensch wider ein ungeteiltes Wesen, ein In-dividuum das aufhört zwei zu sehen - di video - d.h. zu reflektieren.


Nah, gibt es dann keine Kritiker mehr? Sagen wir, daß leben in einem Technotop jede Technikkritik wenigstens unterkritisch, d.h. hypokritisch macht. Jeder Kritiker braucht jedenfalls in seiner Kritik die kritisierten Medien. Die Kritiker sind selber hervorgebracht worden von der von ihnen kritisierte Entstehungsgeschichte der Technik. In diesem blinden Fleck thront die radikale Mediokrität die nur Kollaborateuren, d.h. Mitarbeiter anerkennt. Ihre Widerstand - so hat Foucault argumentiert - optimalisiert das System. Ein Akt des Widerstands, sagt Baudrillard, zerstreut sich in der Unterhaltungsindustrie.


Sollen Kritiker ihr Milieu, ihre Umwelt sprengen wie die shuhada, die suicide bombers? Bedeutet eine kritische Analyse unserer medienhaften Kondition Selbstvernichtung? Die Wahl zwischen Kollaboration oder Selbstvernichtung kann man nur vermeiden in einer Hypokritik die sich im Niemandsland zwischen Philosophie und Kunst, zwischen Ontologie und Einbildung bewegt. Faktum und Fiktion inspirieren einander dauernd. Von diesem unmöglichen Blickpunkt aus soll das Wesen und die Wirkung vielerlei Medien systematisch befragt bleiben.


Nächste Natur ist darum ein hypokritisches Begriff das strategisch aufgefahrt wird um etwas vorher Unsichtbares ins Blickfeld zu rücken. Es zielt auf einen blinden Fleck, auf ein schwarzes Loch, das sich in seiner Unsichtbarkeit aufhellt, damit wir die von den neuen Medien verursachte Transparanz unserer heutigen Existenz durchschauen. Man soll sich, wie der Baron van Münchhausen, am eigenen Haar aus eigenem Sumpf heraus zu ziehen.


Henk Oosterling (Erasmus Universität Rotterdam)

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